In den Räumlichkeiten in der Liebigstraße 9 fand die Eröffnung der Fachberatungsstelle für Psychotraumatologie in Marburg statt. Neben einem Fachvortrag der psychologischen Psychotherapeutin Friedegunde Bölt erwartete die mehr als 70 Besucher*innen auch eine moderierte Diskussionsrunde mit Expert*innen.
In der Familie. Im Freundeskreis. Auf der Arbeit. Oder im Verein. Überall in unserem täglichen Leben begegnen uns Menschen, für die nach einem traumatischen Erlebnis nichts mehr so zu sein scheint, wie es einmal war. Menschen, die zum Teil mehrfach in ihrem Leben Gewalterfahrungen erleben mussten, die ihre Welt aus den Angeln gehoben haben. Menschen, deren eigenes Selbstkonzept bis in die Grundfesten erschüttert ist.
Viele von ihnen sind aufgrund langer Wartelisten für einen Therapieplatz demotiviert und hoffnungslos. Andere wiederum trauen sich erst gar nicht, über das Erlebte zu sprechen.
Um Menschen, die infolge extremer Ereignisse an Symptomen einer Traumatisierung leiden, bedarfsgerecht zu unterstützen, aber auch, um Angehörigen, Unterstützer*innen und Fachkräften Beratung und Entlastung zu bieten, eröffnete der St. Elisabeth-Verein im Oktober 2024 in der Marburger Südstadt in der Liebigstraße 9 die Fachberatungsstelle für Psychotraumatologie.
„Mit der Eröffnung geht ein Anliegen und Wunsch in Erfüllung, der in den vergangenen Jahren von vielen Seiten an uns herangetragen worden ist“, begrüßten Tabea Leinbach und Katja Muth, Fachberaterinnen für Psychotraumatologie, vom OIKOS Sozial- und Teilhabezentrum des St. Elisabeth-Vereins in den Räumen der Fachberatungsstelle die über 70 Besucher*innen zur Eröffnungsfeier.
„Ich freue mich, dass so viele Menschen gekommen sind“, zeigte sich auch Petra Lauer, Geschäftsbereichsleitung des OIKOS Sozial- und Teilhabezentrums, angetan von der großen Resonanz. Ausdrücklichen Dank sprach sie den Mitarbeiter*innen aus, „ohne deren Engagement die Realisierung dieser Fachberatungsstelle nicht möglich gewesen wäre“. An dieser Stelle hob Lauer neben Tabea Leinbach und Katja Muth auch Andreas Droste, OIKOS-Bereichsleiter Teilhabe Leben und Wohnen im Landkreis Marburg-Biedenkopf, hervor, der viele Wege geebnet habe.
„Mit der Fachberatungsstelle für Psychotraumatologie wird das Angebot in Marburg um einen weiteren wichtigen Baustein ergänzt“, so Lauer weiter. Und dass sich seit der Eröffnung im Oktober 2024 schon mehr als 80 Ratsuchende an die Beratungsstelle gewandt hätten, zeige, dass dieses Angebot sehr gut angenommen werde und der Bedarf eindeutig vorhanden sei. Lauers Appell: „Gerade in Zeiten wie diesen haben wir alle einen sozialpolitischen Auftrag. Dazu gehört es auch, solche Projekte voranzutragen.“
In Vertretung von Landrat Jens Womelsdorf und Stadträtin Kirsten Dinnebier, die ihre Teilnahme beide krankheitsbedingt absagen mussten, sprach Marburgs Stadträtin Sevim Yüzgülen ihre Anerkennung für das Projekt aus. „Mit dieser neuen Einrichtung feiern wir einen wichtigen Schritt bei der Unterstützung von Menschen, deren Leben durch Traumata geprägt wurde.“ Yüzgülen betonte zudem die vielfältigen Unterstützungsangebote, die Betroffenen in der Fachberatungsstelle zur Verfügung stünden. So würden nicht nur Informationen bereitgestellt, sondern beispielsweise auch Hilfe bei der Suche nach einem Therapieplatz angeboten.
Neben der Anerkennung für die Mitarbeiter*innen galt auch Yüzgülens Dank der Stiftung Deutsches Hilfswerk der Deutschen Fernsehlotterie, ohne deren Förderung dieses kostenfreie niedrigschwellige Angebot, das auf Wunsch auch telefonisch, digital und anonym genutzt werden kann, nicht hätte umgesetzt werden können. Dass Menschen diese Hilfe unabhängig von ihrer finanziellen Situation in Anspruch nehmen können, ist Yüzgülen wichtig: „Niemand soll aus finanziellen Gründen auf Hilfe verzichten müssen.“

Friedegunde Bölt, Tabea Leinbach sowie Katja Muth machten deutlich, dass betroffene Personen nach einem traumatisierten Erlebnis eine bedarfsgerechte Unterstützung erfahren
Doch wie entsteht ein Trauma eigentlich? Wie sollten Betroffene mit einer Traumatisierung umgehen? Und wie sollte die Gesellschaft mit den Betroffenen umgehen? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigte sich der anschließende Fachvortrag von Friedegunde Bölt, psychologische Fachtherapeutin und klinische Psychologin sowie Gründungsmitglied des Traumazentrum Kassel e.V. „Das Thema Traumatisierung betrifft uns alle“ machte Bölt gleich zu Beginn des Vortrags auf den gesamtgesellschaftlichen Aspekt aufmerksam, verbunden mit der Fragestellung, was Betroffene von uns als Gesellschaft brauchen.
Dass ein Trauma jeden treffen kann, verdeutlichte Bölts Beschreibung, was ein Psychotrauma überhaupt ist. „Ein Psychotrauma wird durch ein Ereignis verursacht, das uns aus unserem Alltag herauskatapultiert und in der Folge ein Gefühl von Ohnmacht und Schutzlosigkeit hervorruft,“ so die psychologische Fachtherapeutin, die gleichzeitig auch darauf hinwies, dass der Begriff „Psychotrauma“ sehr inflationär benutzt werde.
Anschließend stellte Bölt den Zuhörer*innen die zwei verschiedenen Trauma-Typen vor: Während Trauma Typ I für ein einmaliges, zufälliges Ereignis steht, wie einen Unfall oder eine Naturkatastrophe, so bezeichnet Trauma Typ II ein wiederkehrendes traumatisches Erlebnis, das dem Betroffenen durch einen anderen Menschen zugefügt wird. „Betroffene haben keinerlei Möglichkeit, in irgendeiner Weise zu entkommen“, beschreibt Bölt den traumatischen Prozess, der durch diese Erfahrung in Gang gesetzt wird.
Umso entscheidender sei es daher, dass Betroffene nach einem traumatischen Erlebnis eine bedarfsgerechte Unterstützung erfahren. Hierbei differenzierte Bölt zwischen drei zeitlichen Stufen. „Unmittelbar nach einer traumatischen Erfahrung brauchen Betroffene ein einfühlsames und geduldiges soziales Umfeld.“ Vor allem, wenn dieses nicht gegeben sei, sei mittelfristig eine kompetente Beratung erforderlich, wie eben zum Beispiel durch die neu eröffnete Fachberatungsstelle für Psychotraumatologie in Marburg. Längerfristig gelte es dann, individuelle Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
„Die Frage, wie es gelingen kann, auch mit einer Traumatisierung ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität zu haben, ist etwas, das mich umtreibt“, nahm Bölt an dieser Stelle auch die Gesellschaft in die Pflicht und ergänzte: „Was tragen wir als Gesellschaft dazu bei, dass es für Betroffene so schwer ist, sich zu outen?“ Um sich dann auch ganz direkt an ihr Publikum zu wenden: „Was denken Sie, wenn sich jemand outet?“ Denn auch ohne die Angst vor der Reaktion des Umfeldes seien die Auswirkungen einer Traumatisierung auf das Leben der Betroffenen bereits enorm.
„Als unmittelbare Reaktion auf eine erlebte Lebensbedrohung springt ein uraltes biologisches Überlebensprogramm an,“ erläuterte Bölt. Dies führe dazu, dass traumatische Erfahrungen nur unzureichend im autobiographischen Gedächtnis abgelegt werden könnten. Und da sich Situationen, in denen Betroffene „getriggert“ würden, im Alltag nicht immer vermeiden ließen, „ist das ein großes Handycap“. Insbesondere wenn es sich um frühe Gewalterfahrungen und häufig erlebte Gewalt handele, seien auch eine sinkende Lernbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit sowie eine Unterdrückung der Gefühlswelt bis hin zu einer Abstumpfung die Folge.
Und weil der Umgang mit Traumata eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, gab es dann zum Abschluss des Vortrags auch noch eine gemeinsame Reorientierungsübung mit Seh-, Hör- und Körperwahrnehmungsübungen, die auch in der Traumatherapie zur Anwendung kommt. Im Anschluss verabschiedete Bölt die Zuhörer*innen mit den Worten „Willkommen im Hier und Jetzt“ in die Pause, die genutzt wurde, um sich mit Essen und Getränken zu stärken und über das Gehörte ins Gespräch zu kommen.
Miteinander und auch mit dem Publikum ins Gespräch kamen bei der anschließenden von Tabea Leinbach moderierten Diskussionsrunde dann auch Friedegunde Bölt, der EX-IN Genesungsbegleiter Andreas Jung, Jens Schneider von der Obdachlosenhilfe Marburg und Martin Becker vom Psychologisch-Therapeutischen Dienst des St. Elisabeth-Vereins. Neben den Fragestellungen, wie Betroffene Paniksituationen reduzieren können und wie wir als Gesellschaft Menschen in Notsituationen unterstützen können, stand auch die Unterschiedlichkeit und Komplexität von Traumatisierung im Vordergrund.
„Wichtig ist, auch den Menschen zu sehen, und nicht nur das Trauma“, betonte Andreas Jung die Notwendigkeit, genauer hinzuschauen. Auch Friedegunde Bölt wünschte sich mehr gesellschaftliche Offenheit: „Betroffene werden häufig ausgegrenzt und nicht mehr als Teil einer Gesellschaft empfunden – sondern als Bedrohung.“ Jens Schneider machte auf den hohen Anteil traumatisierter Menschen unter Obdachlosen aufmerksam und wies darauf hin, dass obdachlose Frauen stärker betroffen seien als Männer.
Auch das Publikum brachte sich aktiv in die Diskussion ein. So brachte eine der diversen Wortmeldungen die Sorge zum Ausdruck, dass nicht alle Menschen mit Traumatisierung auch die benötige Hilfe bekommen, da es, auch vor dem Hintergrund der Zuwanderung, eine hohe Zahl an Menschen gäbe, die aufgrund traumatischer Erlebnisse kompetente Unterstützung bräuchten. Martin Becker bezeichnete den Aspekt des hohen Bedarfs als wichtigen Punkt: „Wir versuchen, diesem Anspruch bestmöglich gerecht zu werden.“
Bestimmte Gruppen von Menschen sind aufgrund ihrer Biografie besonders vulnerabel. Für traumatisierte Menschen ist es wichtig, die eigenen Widerstandsressourcen zu stärken. Und die Aufgabe für uns als Gesellschaft ist: Mehr Aufklärung und weniger Stigmatisierung. Mit diesen Worten fasste Tabea Leinbach am Ende der Diskussionsrunde noch einmal die zentralen Botschaften zusammen. Denn ein Trauma kann jeden treffen – und betrifft uns alle.
Kontakt: Fachberatung für Psychotraumatologie, Liebigstraße 9, 35037 Marburg. Telefon: 06421 4909994 (telefonische Sprechzeiten: montags 09:00 bis 11:00 Uhr und mittwochs 14:00 bis 16:00 Uhr),
E-Mail: traumaberatung@oikos-sozialzentrum.de.